Rungholt – Kirche gefunden?

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans!
Das ganze Gedicht findet Ihr unten

Rungholt! Da leuchten bei meinem Menschen Sterne in den Augen. Das Gedicht von Detlev von Liliencron hat sie schon als Kind auswendiggelernt und bei jeder Gelegenheit vorgetragen. Ich schätze, dass ihre Klassenkameraden immer ganz froh waren, wenn sie im Deutschunterricht zum Gedichtvortrag aufgerufen wurde – dann konnten sich alle zurücklehnen, es kam kaum noch jemand dran. Mein Mensch liebt heute noch die langen Balladen und zitiert lange Passagen aus „John Maynard“ oder „Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland“ – am liebsten beim Fahrradfahren! 

Rungholt steht also bei meinem Menschen hoch im Kurse und gerade machen spektakuläre Schlagzeilen die Runde:
Forscher finden Kirche von Rungholt!
Rungholt – hier liegt das Atlantis der Nordsee!
Kirche von Rungholt aufgetaucht.

Worum geht es da? Was ist tatsächlich gefunden worden? Ich habe natürlich für meinen Menschen und für Euch recherchiert.

Lange galt Rungholt lediglich als Sage, ein Geraune von einer reichen Stadt im Watt, Menschen mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren, hochnäsig und voll Verachtung gegen die Nordsee. Der Self-Made-Heimatforscher Andreas Busch (1883 – 1972) entdeckte dann Kulturspuren im Watt, forschte und gab den Anstoß, weiterzuforschen. Nach und nach schälte sich dann der wahre Kern hinter der Legende heraus.

Es geht um die alte, untergegangene Landschaft Strand an der nordfriesischen Küste. Ganz grob umfasste Strand das heutige Gebiet von Nordstrand, Pellworm, Süderoogsand, Norderoogsand, Hooge, Langeness, Oland, Gröde, Hamburger Hallig. 

Von einer Insel „Strand“ kann man in dieser Zeit nicht sprechen. Es war ein von Prielen durchzogenes, von Deichen geschütztes Land mit Festlandsanschluss. Salzmarschen, Moore und fruchtbares Land, Siedlungen, Gehöfte und Häfen, Entwässerungsgräben und Wattströme – hier war alles geboten. Die Menschen vom Festland sagten „Uthlande“ – Außenland, nicht mehr Meer, nicht mehr Watt, aber auch noch nicht richtig Land.

Dieses große Gebiet Strand wurde in mehreren katastrophalen Sturmfluten verwüstet, überflutet und letztendlich zerrissen. Die Überbleibsel sind die Inseln und Halligen rund um Pellworm.

Google-Maps: Ungefähre Lage von Strand

 

Auf Strand gab es fünf „Harden“, das sind Verwaltungsbezirke, die mehrere Dörfer oder Höfe zusammenfassten. Auf Strand sind belegt: die Beltringharde, die Pellwormharde, die Wiriksharde, die Lundenbergharde und die Edomsharde. Die Edomsharde hatte als Hauptort die Hafenstadt Rungholt und lag nördlich der heutigen Hallig Südfall (ich habe drei rote Sterne gemalt, wo ungefähr die Edomsharde mit Rungholt gelegen ist).

Strand wurde von den Bewohnern mit Deichen geschützt, die Moore wurden entwässert, das Wasser wurde durch  Siele in die Nordsee geleitet. Das Land wurde landwirtschaftlich genutzt. Im 14. Jahrhundert stieg der Meeresspiegel langsam an, gleichzeitig wurde auf Strand viel Torf* abgebaut und das Land damit tiefergelegt. Entwässerung der Weiden tat ein Übriges – das Land hinter den Deichen lag tiefer als der Meeresspiegel. 

In vielen Sturmfluten hat die Nordsee ihre Wattströme immer tiefer ausgespült. In der großen Sturmflut von 1362 (der ersten „Mandränke“) hat sich einer der größten Wattströme an der nordfriesischen Küste, der Heverstrom, tief in das Land eingegraben. Vorher schmale, seichte Wattströme wurden zu reißenden Strömen. Deiche, Dörfer, Wälder und Weiden gingen unrettbar unter. Besonders betroffen war das Gebiet nördlich von Südfall zwischen Pellworm und Nordstrand: die Edomsharde. Der Untergrund großer Teile der Edomsharde bestand aus Torf, genauer: aus einer Torflinse. Das ist ein Untergrund, der von starken Wasserströmungen schnell und leicht ausgeräumt wird. 

So geschah es mit der Landschaft Strand, sie wurde halbmondförmig ausgehöhlt. Das stehengebliebene linke, westliche Horn ist das heutige Pellworm, das rechte, östliche Horn ist das heutige Nordstrand. In der Mitte wühlte die Nordsee das Land auf, trug es fort und es bildete sich eine große Bucht.

Die Edomsharde mit dem Hauptort Rungholt ging also 1362 in der großen Mandränke unter. 

Jetzt haben Archäologen nördlich der Hallig Südfall Siedlungsreste gefunden. Mehrere Warften mit einer großen Kirchwarft in der Mitte wurden ausgegraben. Die Kirche war mit 40 x 15 Metern ziemlich groß. Die 54 Hauswarften zogen sich über eine Länge von zwei Kilometern hin. Dazu fand man Entwässerungssysteme, kleinere Kirchen und Kapellen und einen kleinen Hafen an einem Siel.

Das Ganze spricht für einen bedeutenden Ort: eine große Kirche, mehrere kleine Kirchen und Kapellen, das spricht für einen größeren Ort, zudem ist es ein Hafen. Vermutlich ist das der Hafen Rungholt und somit ist die Kirche vermutlich die Kirche von Rungholt. Sicher ist das natürlich nicht. Niemand hat ein Ortsschild gefunden, auf dem „Rungholt“ steht. Es gibt über Rungholt keine zeitgenössischen schriftlichen Aufzeichnungen, die über den Namen hinausgehen. Wir haben keinen Lageplan und keinen Katasterauszug.

Fazit: Archäologen haben einen Ort der Edomsharde lokalisiert, der vermutlich das sagenumwobene Rungholt ist. Vermutlich. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Aber: Nicht sicher. Wegen: Kein Ortsschild. 😛 

*Über den Torfabbau, die Salzgewinnung aus dem Torf und die Konsequenzen schreibe ich nochmal separat.

Und jetzt das Gedicht:

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans!
 
Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln im Frieden,
und Zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans!
 
Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans!
 
Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans!
 
Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr faßt selbst der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier alltäglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans!
 
Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
„Wir trutzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich !“
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans!
 
Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen,
der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt den protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen“.
Trutz, Blanke Hans!
 
Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich, wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
kommen wie rasende Rosse geflogen.
Trutz, Blanke Hans!
 
Ein einziger Schrei- die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.—
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Trutz, Blanke Hans!


Detlev von Liliencron

 

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